Frühe Anzeichen dieser seltenen Muskelerkrankung zu erkennen und gezielt zu handeln, kann die Diagnose beschleunigen. So kann der Weg zu lebensverbessernden Therapien für betroffene Buben geebnet werden.
Als Philipp*) geboren wurde, schien alles normal. Als er älter wurde, merkten seine Eltern, dass er später zu gehen begann als andere Kinder und auch mit dem Sprechen später dran war. Der Kinderarzt meinte, dass Philipp in seiner Entwicklung etwas verzögert sei, was vor allem bei Buben vorkommen könne, und dass sich die Eltern keine Sorgen machen müssten. Ab einem Alter von etwa drei Jahren fiel Philipps Eltern auf, dass er immer wieder stolperte und hinfiel. Beim Aufstehen vom Boden und beim Stiegensteigen tat er sich schwerer als andere Kinder. Philipps Eltern wurden damit vertröstet, dass ihr Sohn einfach ein bisschen ungeschickt sei. Einer aufmerksamen Pädagogin im Kindergarten, die schon einmal ein Kind mit einer Muskelerkrankung in ihrer Gruppe hatte, war es dann zu verdanken, dass Philipp an eine Spezialambulanz für neuromuskuläre Erkrankungen verwiesen wurde. Aufgrund von Philipps deutlichen Symptomen stellte die neuropädiatrische Expertin die Diagnose „Duchenne Muskeldystrophie“ (DMD), die durch einen Gentest bestätigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Philipp bereits vier Jahre alt.
So wie Philipp werden jedes Jahr etwa zehn Kinder in Österreich mit DMD diagnostiziert[1]. Der Weg bis zur Diagnose ist oft ein langer und für die ganze Familie herausfordernd.
DMD ist die häufigste Muskelerkrankung. Ursache ist ein Defekt des Dystrophin-Gens, das am X-Chromosom sitzt. DMD tritt daher in der Regel nur bei Buben auf. Betroffen sind etwa 1 von 3.600 bis 6.000 neugeborenen Buben[2]. DMD gehört somit zu den seltenen Erkrankungen. Das bedeutet aktuell etwa 220 Betroffene in Österreich.[3] Den betroffenen Kindern fehlt das funktionsfähige Muskeleiweiß „Dystrophin“, das vor allem für die Stabilität der Zellmembran zuständig ist. Ohne dieses Eiweiß kommt es bereits in der frühen Kindheit, noch lange bevor die ersten Symptome sichtbar sind, zu einer fortschreitenden Degeneration, zunächst der Bewegungsmuskulatur, später auch der Atem- und Herzmuskulatur. Erste Anzeichen einer DMD können sich bereits im Kleinkindalter zeigen. Deshalb kommt einer Früherkennung der Erkrankung große Bedeutung zu.
Früherkennung der Symptome erspart langen Leidensweg bis zur Diagnose
Ab etwa dem dritten Lebensjahr treten bei DMD erste spezifische muskuläre Symptome auf wie häufiges Stolpern und Niederfallen, „watschelnder Gang“, auffälliges Bewegungsmuster beim Laufen sowie Schwierigkeiten beim Stiegensteigen und beim Aufstehen vom Boden. In der Regel verlieren die Buben zwischen dem 8. und 15. Lebensjahr ihre Gehfähigkeit und sind dann auf den Rollstuhl angewiesen. Da in der Folge auch die Atem- und Herzmuskulatur betroffen sind, erreichen die Betroffenen etwa nur das dritte bis vierte Lebensjahrzehnt.[4]
Zusätzlich zur Identifizierung der Symptome kann die Bestimmung eines einfachen Laborwertes, der Kreatinkinase (CK), über die mögliche Erkrankung Aufschluss geben. Ist der CK-MM Wert (der CK-Wert in den Muskelzellen des Bewegungsapparats) deutlich erhöht (über 10.000), empfiehlt sich eine weitere Abklärung durch einen Neuropädiater.[5]Das frühe Erkennen der Erkrankung ist essenziell, um dem Verlust der Gehfähigkeit und anderer motorischer Funktionen so lange wie möglich entgegenzuwirken und den Krankheitsverlauf zu verlangsamen.
Die Früherkennung von DMD kann die Lebensqualität der Betroffenen erheblich verbessern und ermöglicht es, lebensverlängernde Maßnahmen frühzeitig zu ergreifen. Dies setzt jedoch ein gutes Bewusstsein für die ersten Anzeichen der Erkrankung voraus, wie Entwicklungsverzögerungen, Muskelschwäche oder motorische Auffälligkeiten.[6]Fortbildungen für Pädiater:innen, Allgemeinmediziner:innen, Schulärzt:innen und Elementarpädagog:innen, wie sie u.a. die Österreichische Muskelforschung anbieten, können einen wichtigen Beitrag zur Früherkennung von DMD leisten. Durch frühzeitige Intervention und eine multidisziplinäre Betreuung kann der Krankheitsverlauf deutlich verlangsamt werden.

Früherkennung hilft, wertvolle Therapiefenster zu nützen
Die Bewältigung des Alltags stellt für die ganze Familie eine große Herausforderung dar, auch wenn in den letzten zwei Jahrzehnten die Prognose der Betroffenen durch respiratorische, kardiale, orthopädische und rehabilitative Maßnahmen sowie medikamentöse Therapieoptionen verbessert werden konnte. „Mit der Verfügbarkeit neuer Therapien bei Muskelerkrankungen kommt der Früherkennung noch mehr Bedeutung zu als bisher, um wertvolle Therapiefenster nicht zu versäumen“, sagt Univ.-Prof. Dr. Günther Bernert, Neuropädiater und Präsident der Österreichischen Muskelforschung. Alle Therapien setzen voraus, dass Begleit- und Folgeerkrankungen der Muskelkrankheiten, die andere Organsysteme wie Herz und Lunge, Skelett, Ernährung, Verdauung und psychische Gesundheit betreffen, erkannt und behandelt werden. Diese Behandlungen und die Termine in spezialisierten Zentren bedeuten für muskelkranke Kinder und ihre Eltern einen großen zeitlichen und organisatorischen Aufwand.
Zusätzlich zu einer adäquaten medizinischen Versorgung besteht auch großer Bedarf in der psychosozialen Unterstützung der Patienten und ihrer Angehörigen. Neben der Bewältigung des Alltags mit Duchenne-Muskeldystrophie liegt das Augenmerk auf der Verbesserung der Lebensqualität, die den Therapieerfolg und somit den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen kann. „Messlatte für Therapieerfolge sollten nicht nur der medizinische Aspekt sein, sondern auch die Auswirkung auf die Lebensqualität“, so Bernert. Darauf achtet das medizinische Team rund um Philipp ganz besonders. Eine Psychologin steht ihm und seiner Familie begleitend zur Seite.
*) Name von der Redaktion geändert.
Quellen
1 www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/frauen-und-gleichstellung/gender-mainstreaming-und budgeting/gender-daten-index.html, 2.2.2025
2 ojrd.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13023-020-01430-8, 2.2.2025
3 www.dgm.org/muskelerkrankungen/muskeldystrophien-duchenne-und-becker, 10.2.2025
4 Kinder- und Jugendarzt 50. Jg. (2019) Nr. 3/19, 10.2.2025
5 treat-nmd.de/dateien/treatnmd/downloads/Behandlungsstandards_DMD.pdf, 10.02.2025
6 dmd-guide.org/de/krankheitsstadien/fruehe-gehfaehige-phase, 10.02.2025