Der Experte für neuromuskuläre Erkrankungen Prim. Univ.-Prof. Dr. Günther Bernert, Präsident der Österreichischen Muskelforschung, unterstreicht im Interview die Bedeutung eines Neugeborenen-screenings für die spinale Muskelatrophie.
Prim. Univ.-Prof. Dr. Günther Bernert
Präsident der Österreichischen Muskelforschung
Was genau ist die spinale Muskelatrophie und welche Symptome stecken dahinter?
Unter den seltenen Muskelerkrankungen tritt die spinale Muskelatrophie (kurz: SMA) relativ häufig auf. Statistisch gesehen ist in etwa eines von 7.000 neugeborenen Kindern davon betroffen. Umgelegt auf die österreichischen Geburtenzahlen bedeutet das etwa zehn bis elf Neuerkrankungen pro Jahr. Die SMA ist eine erblich bedingte Erkrankung und kann sich in verschiedenen Schweregraden äußern. Die häufigste und leider auch schwerste Form wird schon in den ersten Lebenswochen bzw. Lebensmonaten bemerkt, weil sich Säuglinge nicht auf normale Art und Weise bewegen können. Obwohl das Krankheitsbild in diesem Alter sehr charakteristisch ist, werden immer wieder diagnostische Umwege gegangen, da – wie das bei seltenen Erkrankungen oft der Fall ist – viele PädiaterInnen noch nie ein Kind mit SMA gesehen haben. Eigentlich bedarf es zur Diagnosestellung bei entsprechendem Verdacht nur eines genetischen Tests. Das ist eine Standarduntersuchung und in zirka 95 Prozent der Fälle erhalten wir innerhalb einer Woche dazu Bescheid.
Auf Basis Ihrer langjährigen Erfahrung: Wie reagieren Eltern bzw. Angehörige auf die Diagnose?
Das ist immer eine herausfordernde Situation. Selbst wenn sie sich Sorgen um ihr Kind machen, gehen Eltern zunächst ja von einer vorübergehenden und gut behandelbaren Erkrankung aus, haben oft bisher nichts von genetische Erkrankungen gehört. Sie sind daher auch nicht darauf eingestellt und diese Information trifft sie wie ein Schock. Die Prognose der Erkrankung hängt davon ab, welche Form der SMA das jeweilige Kind hat. Wenn es sich um die schwerste Form handelt, dann müssen wir den Eltern sagen, dass ihr Kind unbehandelt innerhalb der ersten ein bis zwei Lebensjahre versterben würde.
Welche Behandlungsmethoden stehen aktuell zur Verfügung?
Wir kennen heute eine ganze Reihe an Behandlungsmethoden. Wir können einerseits die Auswirkungen mildern – beispielsweise indem wir Beatmungshilfen einsetzen oder die Ernährung auf anderem Wege möglich machen. Diese Methoden setzen nicht an der Wurzel des Problems an, sind aber trotzdem unverzichtbar. An der Wurzel, nämlich dem genetischen Fehler, setzen zwei neue Therapien an, von denen eine in Österreich bereits zugelassen ist, bei der anderen die Zulassung in wenigen Monaten bevorsteht. Entscheidend für deren optimale Wirkung ist aber ein möglichst frühzeitiger Therapiebeginn.
Welche Rolle spielt der Zeitpunkt der Diagnose für den Behandlungserfolg?
Der Zeitpunkt der Diagnose spielt somit ganz eindeutig eine entscheidende Rolle. Wenn zum Zeitpunkt der Erstdiagnose schon ein gewisser Schweregrad der Erkrankung erreicht wurde, kann man leider nicht mehr von einer Besserung motorischer Funktionen oder einer einigermaßen normaler Bewegungsentwicklung ausgehen, obwohl eine Stabilisierung der Erkrankung durchaus möglich ist. Das kann aber immerhin bedeuten, dass das Kind nicht verstirbt und eine Fortbewegung mit Hilfsmitteln oder eine gute Greiffunktion möglich sind – etwas, das unbehandelte Kinder mit der schweren Form der SMA nicht könnten.
Würde hier die Aufnahme der SMA in das Neugeborenenscreening helfen?
Eine Aufnahme dieser Erkrankung ins Neugeborenenscreening wäre das Beste und Dringlichste, das wir im Moment tun könnten! Es ist die beste Chance, um bei Kindern, die zwar von SMA betroffen sind, aber noch keine, nicht sichtbare oder nur milde Symptome aufweisen, möglichst früh mit einer Therapie zu beginnen. So könnten wir ideale KandidatInnen für die neuen Behandlungsmöglichkeiten erkennen. Ich hoffe, dass es noch in diesem Jahr zu einem entsprechenden Pilotprojekt in Österreich kommen wird.