Ein Experteninterview mit Prim. Univ.-Prof. Dr. Günther Bernert, Präsident der Österreichischen Muskelforschung, über den Umgang mit SMA – von der Diagnose bis in den Alltag.
Prim. Univ.-Prof. Dr. Günther Bernert
Präsident der Österreichischen Muskelforschung
Wie reagieren Eltern beziehungsweise Angehörige von betroffenen Kindern auf die Diagnose spinale Muskelatrophie, kurz SMA?
Grundsätzlich ist die Diagnose einer chronischen Erkrankung, insbesondere wenn sie fortschreitend ist, immer ein Schockerlebnis. Vieles hängt davon ab, welche Form der Erkrankung vorliegt. Im Falle der spinalen Muskelatrophie hat sich das Panorama geändert, weil es seit 2017 eine erste und seit 2020 eine zweite zugelassene Therapie gibt. Nach wie vor unverändert ist allerdings, dass sich Eltern von dem Traum von einer gesunden Familie mit einem gesunden Kind verabschieden müssen. Das ist ein Prozess, der individuell sehr verschieden verläuft – je nachdem wo die Eltern beruflich und in ihrem Freizeitverhalten zu Hause sind.
Wie kommuniziert man diesen sicherlich nicht einfachen Prozess als Arzt oder Ärztin?
Die Elterngespräche sind ein ganz entscheidender Punkt, damit ein gutes Vertrauensverhältnis entstehen kann. Aus meiner Sicht ist es wichtig, eine Balance zu finden aus zum Ausdruck gebrachtem Mitfühlen und professioneller Distanz. Das klingt jetzt vielleicht leicht, ist es aber nicht. Wenn man in diesem Gebiet arbeitet, ist es wichtig, die Fähigkeit zu besitzen, über diese Diagnosen und die sich daraus ergebenden Perspektiven sprechen zu können.
Wenn Sie sich jetzt in die Elternperspektive versetzen: Wie geht man am besten damit um?
Menschen sind in ihrer Fähigkeit, mit herausfordernden Situationen umzugehen, sehr unterschiedlich. Das erleben wir immer wieder, wenn Eltern mit der Diagnose konfrontiert werden. Manche können sich schnell auf vorhandene Therapiechancen und andere Handlungsoptionen einstellen, andere brauchen länger, um die neue Situation zu verarbeiten. Emotionen wie Trauer, Enttäuschung, aber auch Kränkung und Wut können ins Spiel kommen. Das professionelle Team, das mit der Familie zusammenarbeitet, muss auf diese unterschiedlichen Typologien und Stile der Verarbeitung adäquat reagieren können und wissen, dass es in dieser Situation wichtig ist, der Familie auch dafür Zeit zu geben. Es ist uns wichtig, den Familien zu vermitteln, dass sie nicht allein durch diesen Prozess gehen müssen. Für das gesamte Familiensystem – die Eltern, Großeltern aber auch Geschwisterkinder – kann es hilfreich sein, psychologisch Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wir bieten diese niederschwellig hier an der Klinik an und beobachten, dass die Familien vermehrt auf dieses Angebot zurückkommen.
Was bedeutet SMA für den Alltag von Betroffenen und deren Angehörigen?
Vieles hängt davon ab, wie stark das Kind neuromuskulär gehandicapt ist. Es macht einen Unterschied, ob sich das Kind mit einem Hilfsmittel selbst fortbewegen kann oder nicht. Aber es ist in jedem Fall wichtig, dass der Alltag erfüllt werden kann. Eine wichtige Grundregel dabei ist, dass man sich mit den Dingen zu einer Zeit beschäftigt, in der sie noch nicht notwendig sind. Diese antizipatorische Herangehensweise ist wichtig, um in Ruhe für die unterschiedlichsten Bereiche des Alltags Möglichkeiten und Alternativen besprechen zu können – angefangen bei der Suche nach geeigneten Kindergartenplätzen über die Themen Infektionen und Impfungen bis hin zu prophylaktischen „Hausübungen“ und Trainings zur Verbesserung des Lungenvolumens oder des Abhustens.
Welche positiven Impulse können Sie Interessierten oder Betroffenen abschließend mitgeben?
Bei jeder Erkrankung, auch bei nicht heilbaren Erkrankungen, kann man etwas tun. Im Falle der SMA sind wir der Fantasie einer Heilung mit den verfügbaren Therapien ja bereits ein Stück näher gekommen, da es für alle Patienten Therapieoptionen gibt. Den Arzt, der mit einem bekümmerten Gesicht sagt, er könne leider nichts mehr tun, sollte es gar nicht geben. Denn man kann immer etwas tun – und sei es nur, den Biorhythmus, die Schlaf- oder Lagequalität zu optimieren. Schon eine Stabilisierung darf hier als Erfolg gewertet werden. Außerdem können wir Eltern die Hoffnung mitgeben, dass sich die Medizin laufend weiterentwickelt.
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Biogen-76445 (Informationsstand Oktober 2020)