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4H-Syndrom

„So wie es jetzt ist, ist es eigentlich schön“

©zvg

Sabine Pessenteiners Sohn Niclas ist vier Jahre alt und leidet am sehr seltenen 4H-Syndrom. Im Interview erzählt sie, wie mühsam der Weg zur Diagnose war, welche besonderen Bedürfnisse Niclas aufgrund seiner Behinderung hat und wie sie und ihre Familie gelernt haben, damit ganz normal umzugehen.

Wie hat man das 4H-Syndrom überhaupt diagnostiziert?

Niclas hat sich im ersten Lebensjahr ganz normal entwickelt, doch dann blieb seine Entwicklung plötzlich stehen. Aufgrund dessen sind wir überhaupt erst einmal stutzig geworden. Wir sind zum Kinderarzt gegangen, doch der hat uns das erste Mal wieder nach Hause geschickt. Nici musste dann aufgrund eines Fieberkrampfes mit extremem Zittern ins Krankenhaus gebracht werden, wo er ein paar Tage beobachtet wurde.

Die Ärzte sind drauf gekommen, dass irgendetwas nicht stimmt. Er wurde weiter überwiesen nach Salzburg, dort hat man ihn wiederum eine Woche lang beobachtet und auch bei der Physiotherapie filmen lassen. Zu diesem Zeitpunkt war er eineinhalb Jahre alt.

Wir sind dann zu einem Neuropädiater gegangen, der das Filmmaterial bei einem Ärzteforum in der Schweiz vorgestellt hat. Und dort ist dann erstmals der Verdacht entstanden, dass es sich um das 4H-Syndrom handeln könnte. Über Bluttests von meinem Mann und mir hat sich dieser Verdacht dann erhärtet und bei Niclas wurde das 4H-Syndrom diagnostiziert.

Das klingt nach einem langen und mühsamen Weg.

Bis zur Diagnose hat es ungefähr ein Jahr gedauert. Es war zwar einerseits eine Arzttortur, andererseits aber auch ein Glück, dass es so „schnell“ gegangen ist. Wir haben schon von Eltern gehört, die seit Jahren nicht wissen, was ihr Kind hat. Wir haben eine Diagnose und wissen wenigstens, was es ist. Es ist zwar nicht behandelbar, aber wir haben einen Namen für die Krankheit.

Welche Symptome hatte Niclas?

Als Niclas auf die Welt gekommen ist, hatte er bereits sechs Zähne. Das wurde damals als Sensation empfunden. Ich habe in einem kleinen Krankenhaus entbunden. Dort hat es das noch nie gegeben und jeder hat es spannend gefunden. Jetzt wissen wir, dass es sich dabei um das erste Symptom des 4H-Syndroms handelte.

Außerdem hatte Niclas Ataxien, hat stark gezittert und mit neun, zehn Monaten ist seine Entwicklung einfach nicht mehr vorangegangen. Er konnte zwar mit Anhalten stehen, aber mehr kann er auch heute noch nicht. Er wird nie frei stehen oder gehen können.

Weltweit gibt es nur 150 bekannte Fälle des 4H-Syndroms und Niclas ist der einzige in Österreich. Gibt es da überhaupt spezialisierte Ärzte?

Wir sind bei einem super Neuropädiater in Salzburg, der kann uns aber auch nur an eine Spezialistin in Amsterdam weiter verweisen. Wir waren auch schon dort und haben bei Niclas Stammzellen entnehmen lassen. So kann am 4H-Syndrom geforscht und vielleicht irgendwann einmal eine Linderung dafür gefunden werden. Aber das ist alles noch ganz am Anfang.

Wie sind Sie mit der Diagnose 4H-Syndrom umgegangen?

Für uns war es das Schlimmste, nicht zu wissen, ob Niclas vielleicht nur 10 Jahre alt werden wird. Es hat ein paar Wochen gedauert, bis wir wussten, dass die Lebenserwartung bei Niclas nicht eingeschränkt ist. Man kann nie sagen, ob ein 4H-Patient nur 20 Jahre alt werden wird. Wir kennen Fälle, die heute schon 40 Jahre alt sind! So wie es jetzt ist, ist es eigentlich schön. Irgendwie lebt man einfach damit und es fällt uns auch gar nicht mehr so schwer.

Es geht Ihnen und Ihrer Familie heute also besser?

Ja viel besser! Wir machen auch alles Erdenkliche mit Nici. Mein Mann ist 40 und ich bin 35 Jahre alt – wir bemühen uns, dass wir noch Zeit für uns als Paar haben. Wir haben vier Kinder und unsere Eltern schauen auf die vier Buben. Wir sperren uns sicher nicht ein und nehmen Nici auch überall hin mit. Auch die drei anderen Buben betreuen ihn total nett. Wir waren zum Beispiel unlängst Rodeln. Wir haben Nici eine halbe Stunde rauf auf den Berg getragen und beim Hinunterrodeln hatte er den größten Spaß!

Welche Unterstützung braucht Niclas im Alltag?

Niclas kann nicht gehen, er muss gewickelt und gefüttert werden. Wir machen viele Therapien wie Osteopathie, Physio- und Ergotherapie, auch Logopädie und Frühförderung bekommt er schon, seit er ein Jahr alt ist. Wir probieren auch viel aus, gerade üben wir Gesten, damit er mit uns kommunizieren kann.

Darüber hinaus haben wir ein Tablet zur unterstützenden Kommunikation. Ich hoffe, er wird damit schreiben lernen, einen Stift wird er wahrscheinlich nie halten können. Die digitale Revolution ist auch für ihn eine Revolution. Wir wüssten ohne Tablet gar nicht, was er kognitiv schon alles kann. Außerdem könnte er aufgrund seines Zitterns nie ein Puzzle bauen, aber mit dem Touchpad geht das!

Am Spielplatz kann er nicht mit den anderen Kindern mitlaufen. Gut, dann beeindruckt er die Kinder halt mit dem Tablet und sie wollen mit ihm darauf spielen. Es gibt jetzt schon viele Apps, aber in den nächsten Jahren wird es sicher noch viel mehr geben.

Und auf welche Unterstützungsmöglichkeiten können Sie zurückgreifen?

Wenn man sich die Mühe macht, dann gibt es Hilfe vom Staat. Man muss zwar alles erkämpfen und beantragen, aber eigentlich gibt es wirklich viele Unterstützungsmöglichkeiten. Mein Mann ist in einer Facebook-Selbsthilfegruppe. Ich hab es dort nicht ausgehalten, weil alle nur jammern und die Kinder bemitleiden. Es bringt dem Kind nichts, wenn man alles nur schlimm und negativ sieht. Außerdem haben wir ein großes soziales Netz, auf das wir privat zurückgreifen können und viele Freunde, die uns helfen.

Was wünschen Sie sich als Mutter, wie andere Menschen Ihrem Sohn begegnen sollen?

Er geht ganz normal in den Integrationskindergarten. Die Kinder sollen einfach offen mit ihm umgehen. Das wünsche ich mir auch von der Gesellschaft – auch offen über das Thema Behinderung zu sprechen! Ich habe kein Problem damit, wenn mich jemand fragt, was mit Nici los ist – das passiert oft dreimal am Tag.

In der heutigen Gesellschaft sollte man so miteinander umgehen, dass man auch mit Behinderung so gut wie möglich leben kann. Ich wünsche Niclas einmal, dass er viel selber machen, in die Schule gehen und vielleicht irgendwann einmal einen Job finden kann. Ich möchte Niclas auf keinen Fall verstecken!

Wissenswertes zum 4H-Syndrom

Das 4H-Syndrom gehört zur Familie der Leukodystrophien. Wie andere Erkrankungen aus dieser Familie ist auch das 4H-Syndrom eine genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung. Im konkreten Fall fehlt bei 4H-PatientInnen das die Nerven einfassende Myelin, wodurch die Reizleitung zwischen Gehirn und Gliedmaßen gestört ist. Das 4H-Syndrom entsteht, wenn beide Elternteile diesen Gendefekt aufweisen, wobei nur jeder zweihundertste Mensch überhaupt Träger ist. Das 4H-Syndrom wird nicht zuletzt auch aufgrund seiner Seltenheit nur in Ausnahmefällen und von Spezialisten diagnostiziert. In Europa sind etwa 50 Fälle bekannt. Experten schätzen allerdings, dass die Zahl der Menschen, die unentdeckt mit dem 4H-Syndrom leben, höher ist als bisher angenommen.

Kleinkinder und das 4H-Syndrom
Zumeist verläuft das erste Lebensjahr eines 4H-Kindes normal, das heißt, ohne größere Auffälligkeiten. Erst im Laufe des zweiten Lebensjahres wird ein 4H-Syndrom dann deutlich. Das einzige sehr frühe Kennzeichen eines 4H-Syndroms ist, dass Babys bereits bei der Geburt einige Zähne haben können. Abseits davon charakterisieren sich die kleinkindlichen 4H-Symptome hauptsächlich aus Entwicklungsverzögerungen. Dazu zählen etwa verspätetes Gehenlernen, neurologische Auffälligkeiten wie etwa Sprachverzögerungen oder Ataxien, also motorische Störungen in den Bewegungsabläufen. Darüber hinaus kann starkes Zittern ein weiterer Hinweis auf das 4H-Syndrom sein.

eine Pubertät
Ein Symptom, das erst in der zweiten Lebensdekade auftritt, ist, die fehlende Pubertät. Dieser hypogonadotropische Hypogonadismus ist für zwei „H’s“ in der Abkürzung 4H-Syndrom verantwortlich und meint eine Fehlfunktion der Keimdrüsen. Die auf die Kurzform 4H hinweisenden beiden anderen H-Syndrome sind Hypomyelation, die auf das fehlende Myelin im Nervensystem hinweist, sowie Hypodontie. Letztere bezeichnet den gestörten Zahnwuchs bei 4H-PatientInnen, einige Zähne können auch gänzlich fehlen oder eine unnatürliche Form haben. Außerdem können Menschen mit 4H-Syndrom eine starke Kurzsichtigkeit entwickeln.

Therapien und Forschung
Das 4H-Syndrom kann nicht geheilt werden. Die Behandlungs- und Therapieformen sind momentan rein symptomatisch. Aktuell wird intensiv an Leukodystrophien geforscht. Auch für das 4H-Syndrom erhoffen sich Wissenschaft, Medizin und Betroffene neue Erkenntnisse durch die Stammzellenforschung. Dadurch wird es vielleicht in einigen Jahren möglich sein, 4H-PatientInnen Myelin zuzuführen. Bis dahin können unter anderem Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie 4H-PatientInnen im Alltag unterstützen.

Anmerkung der Redaktion vom 25.02.2016:

Mittlerweile wurde ein 2. Fall des 4H-Syndroms in Österreich diagnostiziert.

Magdalena Reitbauer, [email protected]

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