Eigentlich heißt es: „Wenn du Hufschläge hörst, denk an Pferde, nicht Zebras.“ Diese im Zuge der Diagnosefindung angewandte Faustregel führt bei seltenen Erkrankungen oftmals in die Irre.
Dr. Rainer Riedl
Obmann Pro Rare Austria, Allianz für seltene Erkrankungen ©Foto: Nadine Bargad
Vor rund 70 Jahren gab Prof. Theodore Woodward seinen
Medizinstudenten die Faustregel „If you hear hoofbeat, think of horses,
not zebras“ mit auf den Weg. Seit damals gilt für eine effiziente
Diagnosefindung, zuerst an das Naheliegende und nicht an das
Ausgefallene zu denken. Was für häufige Erkrankungen (Pferde) gilt, kann
aber bei seltenen Erkrankungen (Zebras) in die Irre führen.
Diagnosefindung – die Odyssee
Eines der großen Probleme bei seltenen Erkrankungen ist der lange Weg zur Diagnose: im Durchschnitt drei Jahre, in Einzelfällen wesentlich länger. So zum Beispiel bei Frau C., die vom Wolfram-Syndrom betroffen ist. In ihrem Fall dauerte es unfassbare 30 Jahre bis zu einem korrekten Krankheitsbefund.
„Therapien“ für die Diagnosefindung
Natürlich gibt es – noch – kein Patentrezept für die Beschleunigung der Diagnosestellung. Bei genauer Betrachtung finden sich aber vielversprechende Ansätze, wie die folgenden Beispiele belegen sollen.
Dr. House diagnostiziert:
Prof. Dr. Jürgen Schäfer hat sich als Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen an der Universitätsklinik Marburg den Titel „deutscher Dr. House“ erworben. Mit den Methoden der modernen Medizin und detektivischem Talent kommt er immer wieder auf die richtige Spur und ist für PatientInnen mit seltenen Erkrankungen oft die letzte Hoffnung.
Studenten forschen nach:
Das Referenzzentrum für seltene Erkrankungen der Universität Frankfurt beheimatet eine Studentenklinik, an der beispielsweise die Bearbeitung der eingesendeten Akten, die Patientenbetreuung und die Telefonsprechstunde von Studenten abgewickelt werden. Unter dem Motto „Nichts ist unwichtig“ wird seltenen Erkrankungen mit Rechercheprogrammen, Fachwissen und Engagement nachgegangen. Gerade der unvoreingenommene Blick der Studenten hilft bei der Diagnosefindung.
Computermodell unterstützt Diagnosen:
Ein von Prof. Dr. Lorenz Grigull und seinem Team in Hannover entwickeltes Tool basiert auf der Annahme, dass unterschiedliche seltene Erkrankungen bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese kennzeichnen den schwierigen Weg zur Diagnose. Auf Basis eines Fragebogens wird für PatientInnen eine modellbasierte Auswertung erstellt, welche die Diagnosefindung erleichtert.
Digitale Tools als Hoffnungsträger
Ein weiteres Feld sind Datenbankanwendungen, die Experten auf dem Weg zur Diagnose unterstützen können. Auch hierzu zwei Beispiele.
Symptoma:
Auf Basis vorliegender Symptome verspricht diese medizinische Suchmaschine die passenden Ursachen für Krankheiten zu finden. Sie wurde 2016 von der EU-Kommission als „beste und vielversprechendste eHealth-Lösung“ ausgezeichnet (www.symptoma.com).
Symptomsuche:
Am Plus hat mit diesem digitalen Tool ein Hilfsmittel primär für Allgemeinmediziner geschaffen, das bei der Diagnosefindung unterstützen kann (www.symptomsuche.at).
Die Allianz für seltene Erkrankungen, Pro Rare Austria, stellt darüber hinaus zwei Ideen zur Diskussion, die den Weg zur Diagnose beschleunigen sollen:
- Servicestelle SE: In dieser Service-Einrichtung wird spezifisches Fachwissen über seltene Erkrankungen gebündelt, das im Tagesgeschäft jederzeit von niedergelassenen Allgemeinmedizinern und Fachärzten aus ganz Österreich abgerufen werden kann.
- Diagnoselotse: An allen österreichischen Universitätsklinikstandorten wird ein derartiger Lotse implementiert, der PatientInnen so lange an die Hand nimmt und durch das Spitalssystem leitet, bis die Diagnose vorliegt.
Bitte an Zebras denken – Awareness for Rareness
Keine Frage: Die Verbesserung der Diagnosefindung für seltene, oft multisystemische Erkrankungen wird nicht von heute auf morgen gelingen. Die kooperative Zusammenarbeit der betroffenen Stakeholder ist genauso notwendig wie entsprechende Strukturen und Tools. Bis es soweit ist, appelliert Pro Rare Austria an alle beteiligten Mediziner: Denkt im Diagnoseprozess immer wieder auch an Zebras!